Wie das Schreiben zu mir kam

Veröffentlicht am 27. Oktober 2025 um 22:04

Für meinen ersten Blogeintrag habe ich mich zunächst für ein persönliches Thema entschieden. Hintergrund hierfür ist, dass ich beim ersten Versuch, mich selbst auf dieser Seite vorzustellen, relativ ausufernd darüber geschrieben habe, wie das Schreiben zu mir kam.  Ich habe mich dann dazu entschieden, diesen Text nicht einfach so verschwinden zu lassen, sondern ihn in meinen ersten Blogeintrag umzuwandeln. 

Die ersten fantastischen Räume, in denen sich mein Denken bewegte, waren gleichzeitig Ausdruck der  ersten Eindrücke meiner Welt: neben den für mich unverständlichen Lauten der Menschen, Tiere, den Geräuschen wie Sitar-Klängen zu Beginn des Konzerts für Bangladesch wenn es Samstag war und wir den nassgewischten Boden nicht betreten durften,  waren es die Gerüche, die Landschaft und die Umgebung, in der ich meine ersten Bilder und Vorstellungen entwickelte: Streuobstwiesen, Flussauen, Weinberge an Steilhängen, Holzbalken-Wände, Fliesenboden, hohe Decken, Kuhfell als Dekoration, auf dem ich mit meinen kleinen Händen entlangstrich, Hundehaare, Räucherstäbchen, Reis mit Kardamom, Schweine- und Hasenschlachtung.

Meine ersten Geschichten waren Produkte mündlicher Überlieferung. So erzählten wir uns im Kindergarten gegenseitig Geschichten, wie uns die Flucht aus dieser Institution gelang und schmiedeten weiter emsig Pläne, wie wir uns aus dem Sandkasten zu mir in den Garten gruben. Aus diesen Vorstellungen wurden dann schon bald Erzählungen, von denen wir uns so berichteten, als wären sie „wirklich“.

Wesentlich komplexer wurde es dann schon bald im Kinderzimmer: dort wurde zum ersten Mal mit verschiedenen Persönlichkeiten experimentiert, indem ich mit meinen Kuscheltieren Rollenspiele praktizierte.

Und dann kam ich in die Grundschule und lernte Lesen und Schreiben. Neben der Spontaneität des Erzählens war ich nun in der Lage, Artefakte zu erschaffen und Projekte fortzusetzen.

Aufgrund meiner Unfähigkeit, leserlich zu schreiben, wurde mir der Computer, damals noch mit Windows 2000 und aus heutiger Sicht unnormal klobigem Monitor, von meiner Lehrerin empfohlen. Ich durfte meine Geschichten bereits mit 8 Jahren auf einem Medium verfassen, dass das geschriebene Wort transzendierte, indem es durch den Transport von erkanntem Buchstaben durch Tastendruck auf dem Bildschirm neutralisiert wurde und sich das Geschriebene dadurch von meinem direkten Erzeugnis entfremdete.

Die Räume, in denen sich meine Fantasie bewegte, wurden zu dieser Zeit eng vorgegeben und kannten keine eigenen Wege. Uns wurden kleine Bildergeschichten vorgelegt, die uns vorgeben sollten, was in unsere Vorstellung kam, und wir sollten uns überlegen, was in diesen Bildern geschah und dies durch unsere Worte zu Papier bringen.

Diesen ersten Gehversuchen im Schreiben schloss sich eine mehrjährige Phase der Fantasy-Welten an, in die ich als jüngstes von drei Kindern vor allem von meinem 5 Jahre älteren Bruder entführt wurde. Angefangen mit der Verfilmung von „Der Herr der Ringe“ von Ralph Bakshi über die eigene Lektüre des „kleinen Hobbits“ bis hin zu meinen eigenen ersten Geschichten, in denen ich mich des Monster-Fundus‘ von „Dungeons & Dragons“ bediente, lotete ich zu dieser Zeit aus, wie ich Spannung erzeugen und Helden konstruieren konnte, die, den Vorbildern aus den Geschichten von Tolkien, Paolini und Rowling, gleich, stehts in einer manichäischen Welt zu überleben versuchten.

In der 7. oder 8. Klasse am Gymnasium wurde dieses naive Weltbild durch die Erfahrung von tief empfundenen Gefühlen, die sich der Logik von „Gut“ und „Böse“ entzogen, erweitert: es brauchte nun nicht mehr nur die Monster im Außen, um einen Ausdruck für das zu finden, was in uns schlummert und von uns in eben dieses Außen verschickt werden kann:  wir sollten eine Episode aus „Der gelbe Vogel“ weiterschreiben, in der Naomi von Alan nach ihrer Retraumatisierung aufgefunden wird. Voller Begeisterung stürzte ich mich in diese Aufgabe, füllte Seite um Seite mit meinem Lamy-Füller, ließ mir Sätze von meinem Vater ins Französische übersetzen und war innerlich voller Trauer aufgrund der Vorgänge in der Geschichte und voller Aufregung, als ich von der Klasse aufgefordert wurde, meine Geschichte vorzulesen. Ich endete mit Tränen in den Augen und blickte in eher irritierte Gesichter bei Lehrerin und dem Rest der Klasse.  Vielleicht war das, was ich geschrieben hatte, einfach schlecht. Oder ich hatte vor Aufregung so sehr genuschelt, dass man mich nicht verstanden hatte. Ich konnte mir diese Reaktion nicht recht erklären, da ich mindestens mit Anerkennung im Idealfall jedoch mit Beifall gerechnet hatte. Ich bekam aber weder das eine noch das andere. Bei mir selbst blieb jedoch das Gefühl von tiefer Trauer, das ich durch mein eigenes Schreiben erzeugt hatte. Und der Efolg, dass ich es durch mein Schreiben geschafft hatte, mich in einen Zustand zu versetzen, den ich bereits aus meiner frühesten Kindheit kannte, als ich noch völlig frei imaginierte, was ich nun geschrieben ausgedrückt hatte. Ich denke, das war Authentizität.

Und dann kam die Pubertät und alles wurde wilder, subversiv und kritisch. Angefangen hatte es, als mir mein Vater auf einer Autofahrt zur Orchesterprobe die „Doors“ vorgestellt hatte. Ich kannte die Klänge zwar bereits aus meiner Kindheit, doch erst mit 14 erkannte ich die Aufforderung von Jim Morrison, auf die andere Seite durchzubrechen. Er sprach mich direkt mit einer solch immensen Brutalität an, dass ich endlich einen Namen und Platz für das fand, was sich da in meinem Inneren abspielte. Ich entdeckte „Unterm Rad“,  William Blake und die Faszination für die Philosophie. Das, was ich schrieb, sollte nicht mehr nur etwas transportieren, sondern eine Bedeutung haben und mir dabei helfen, mich selbst und die Geschehnisse in der Welt zu verstehen. Bis dahin war ich ein eher mittelmäßiger Schüler im Deutschunterricht gewesen, auch wenn ich immer gerne geschrieben hatte, viel es mir schwer, Argumente auszuführen und den Anforderungen, die der Unterricht an mich stellte, gerecht zu werden. Doch auf einmal begann ich mit Konzepten wie Transzendenz zu jonglieren und ließ plötzlich Sokrates in meinen Erörterungen sprechen.  

Der Weg zu den Philosophen, die sich mit genau diesen Fragen beschäftigen, war dann auch nicht mehr weit. Sie dienten mir hier vor allem als Paten, mich mit meinem Bedürfnis, mich tiefgründig und voller Sinn auszudrücken und halfen mir bei drogen- und alkoholgetränkten Gesprächen die innere Leere und die Unsicherheiten der Jugend mit dem Vertrauen, nicht alleine zu sein, zu füllen. Zur Existenzphilosophie kam ich über Albert Camus „Der Fremde“ und die Kurzgeschichten-Sammlung „Die Kindheit eines Chefs“ von Sartre, dass ein Bekannter meines Bruders, der seine Wohnung aufgelöst und seine Habseligkeiten in der Scheune meiner Großtante zwischengelagert hatte. In einem Eck der Scheune hatte er völlig wahllos Bücher von Marx, „Hasta la victoria siempre“ von Che Guevara und eben auch das Buch von Sartre deponiert, welche ich unbemerkt in meinen Besitz brachte.

Neben den Philosophen und den „typischen Schriftstellern der Jugend“ kamen die Werke der Vertreter der Beat-Generation, allen voran „Naked Lunch“ von William Burroughs und „On the Road“ von Jack Kerouac dazu und prägten mich nicht nur in meinem Wunsch, so zu schreiben und denken wie sie, sondern mein Leben so zu gestalten, wie sie, damit ich eben auch so schreiben und denken könne, wie sie.

Kurz nach Beginn der 10. Klasse kamen diese Themen dann auch immer mehr im Schulunterricht an, und es kristallisierten sich immer mehr Gleichgesinnte heraus, mit denen ich gemeinsam auf die Jagd nach den „guten Gedanken“ gehen konnte. Wir sollten bei einer Referendarin, der wir später die Eignungsprüfung fürs Lehramt versauten, eine Kurzgeschichte schreiben, in der wir einen Gegenstand davor bewahren sollten, in Vergessenheit zu geraten, als Vorbereitung für die Themen „Memento mori“ „Vanitas“ und „Carpe diem“. Schnell entschied ich mich für „Masse und Macht“ von Elias Canetti, einem Buch, das ich mit einer Staubsicht verziert in den Bücherregalen meines Vaters gefunden hatte. Ich nutze dieses Buch als Stellvertreter für mein Bedürfnis, ein Außenseiter in einer Welt voller Normalität sein zu wollen und erhielt nun den erhofften Applaus meiner Lehrerin und meiner Mitschüler, den ich mir mit 11 so sehr gewünscht hatte.

Nach dem Abitur entschied ich mich dann für ein Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen, welches ich eher nebenher verfolgte und die meiste Zeit auf den Zugfahrten damit verbrachte, an meinen Gedichten, Romanprojekten und Gedanken zu schreiben. Wenn mich die Vorlesungen und Übungen wieder einmal langweilten oder ich angeekelt von den anzugtragenden Schnöseln, die meine Kommilitonen waren, in irgendeine Ecke des Raumes starte, kramte ich in meinem Rucksack nach dem anderen Collegeblock, den ich nicht für meine Uni-Aufschriebe nutze und vertiefte mich in meine Schreibprojekte. So dauerte es dann auch nur bis Weihnachten und dann ging ich eigentlich gar nicht mehr zu den Vorlesungen, sondern verpflanzte mich lieber ins „Clubhaus“, trank dort schrecklichen Kaffee und rauchte eine Selbstgedrehte nach der andern, während ich schrieb.

Nach dem abgebrochenen Studium kam dann eine Ausbildung zum Buchhändler, die ich ebenfalls nur ein halbes Jahr durchhielt und dann ein Philosophie-Studium, ebenfalls in Tübingen, mit Nebenfach Evangelischer Theologie und Geschichte. In diesem Studium kam ich dann das erste Mal mit dem Verfassen von wissenschaftlichen Texten in Berührung, was mir trotz der strengen Regularien große Freude bereitete.  Im Studium begegnete ich wieder genau den Philosophen, die mich von 14, 15 an so aus der Welt entrückt hatten und beschäftigte mich allen voran mit der Lektüre von „Die Transzendenz des Ego“ von Sartre, „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir, „Die geistige Situation der Zeit“ von Karl Jaspers und Auszügen aus „Brief über den Humanismus“ von Martin Heidegger. Neben diesen Texten waren es vor allem die Vorläufer dieser Denktradition, die mich ansprachen und mich immer weiter von den Strukturen und Vorgaben des Studiums entfernten. So verbrachte ich zwei Semester damit eine Hausarbeit über den Dialog von Platon „Politeia“ zu verfassen, in der sich sein Denken über die Poiesis und Mimesis im Philosophen-Staat mit dem Denken über das Sein verknüpfte und ein halbes Semester damit, über das Konzept des Selbst in Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ nachzudenken. Doch auch wenn es ein Philosophie-Studium war, war ich in meinen Schreib- und Denkversuchen nicht so frei, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es gab dann eben auch Klausuren in Logik oder Proseminare mit so faszinierenden Titeln wie: „Überzeugung und epistemische Normativität“, von dem ich bis heute nicht weiß, was ich da eigentlich lernen sollte.  

Nach 5 oder 6 Semestern musste ich mir dann eingestehen, dass ich den Anforderungen des Studiums nicht gewachsen war, das Schreiben als Leidenschaft und Hobby durchstand jedoch auch diese Zäsur. Ich wechselte durch einen glücklichen Umstand in ein duales Studium der Sozialen Arbeit. Hier interessierte ich mich vor allem für soziologische Theorien, beispielsweise  für „Asyle“ , "Dispositive der Macht" oder "Die feinen Unterschiede".

Und nun?

Ich bin nun an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem es mir möglich ist, eine Geschichte von mir zu erzählen, wie das Schreiben zu mir kam.

Ich bin nun an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem es mir möglich ist, auf all das, was mich beim Schreiben begleitet hat, mit einem Abstand zu schauen und dies aus der Distanz heraus einzuordnen, ohne es zu sehr mit meinen Empfindungen und Bewertungen verknüpfen zu müssen.

Ich bin nun an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ich sagen kann, dass ich nicht zum Schreiben kam, sondern das Schreiben zu mir kam, als etwas, das mich gleichzeitig während den tiefsten Krisen und höchsten Höhepunkten meines Lebens begleitet hat.

Und heute, in dem Moment, in dem ich dies hier schreibe, weiß ich, dass sich all das, was an Facetten des Schreibens und Denkens während meines Lebens auf mich zukam, wie eine lange Kette um meinen Hals liegt. Mal schmückt es mich und mal erdrückt es mich.

 

 

Aufgeführte Literatur

Blake, William: Zwischen Feuer und Feuer

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede

Burroughs, William S.: Naked lunch

Camus, Albert: Der Fremde

Canetti, Elias: Masse und Macht

de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht

Dungeons & Dragons: Monster Manual

Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses

Goffman, Ervin: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen

Guevara, Ernesto Che: Hasta la victoria siempre

Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus

Hesse, Hermann: Unterm Rad

Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit

Kerouac, Jack: On the Road

Kierkegaard, Søren: Die Krankheit zum Tode

Levoy, Myron: Der gelbe Vogel

Marx, Karl: Das Kapital

Paolini, Christopher: Eragon

Platon: Politeia

Rowling, J.K.: Harry Potter

Sartre, Jean-Paul: Die Kindheit eines Chefs

Sartre, Jean-Paul: Die Transzendenz des Ego

Tolkien, J.R.R.: Der kleine Hobbit